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5 Wirkung des Werkes Wilhelm Ostwalds bis zur Gegenwart

5.1Rezeption in der wissenschaftlichen Literatur

Während in der chemischen Literatur Wilhelm Ostwalds Name bis heute regelmäßig auftaucht, sind seine kulturwissenschaftlichen und naturphilosophischen Arbeiten in Vergessenheit geraten. Nicht einmal der Physiker Friedrich Hund erwähnt Ostwald und seine Energetik in einer Rede über Die Entwicklung und Bedeutung des Energiebegriffes und seiner 100-jährigen Geschichte im Jahr 1943. Das mag zum einen daran liegen, daß diese Schriften primär populärwissenschaftlich angelegt waren, zum anderen aber auch daran, daß die akademischen Fakultäten für seine übergreifenden Gedanken wenig Platz boten. Die inhaltliche, methodische, institutionelle und emotionale Trennung von Geistes- und Naturwissenschaften, die er überwinden wollte, stellte sich ihm als Hindernis entgegen, das er nicht überwinden konnte. Der große Wiederhall, den seine und ähnliche Ideen in der breiten Bevölkerung erzeugten, zeigt aber, daß sie einem allgemeinen Lebensgefühl, zumindest eines Teils der Menschen entsprachen. Die Schulphilosophen hingegen wollten einer solchen Laienphilosophie nicht zu viel Raum gewähren, die kirchennahe Philosophie fühlte sich ohnehin angegriffen, Kompromisse schienen unmöglich. Die Mehrheit der Naturwissenschaftler traute sich - mit Recht - nicht zu, einen Ersatz für die christliche Ethik bieten zu können. Der energetische Imperativ, den Ostwald bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit proklamierte, war beileibe nicht ausreichend, den Menschen den Halt zu geben, den sie in der Religion suchten. So erfuhr Ostwald von allen Seiten fast nur Ablehnung.

Somit war zu erwarten, daß seine Ideen nur wenig Nachhall in der wissenschaftlichen Literatur fanden. Von den 36 Titeln, die Rodnyj und Solwjew in ihrer Ostwald-Biografie bis 1977 über Ostwald zusammengetragen haben, sind 18 biographische Titel, 14 über sein Wirken in der Chemie, 2 beziehen sich auf die Farbenlehre und nur 3 über allgemeinere, philosophische Themen, von denen eine eine zeitgenössische Besprechung der Energetik ist. Hier sind also vorwiegend naturwissenschaftshistorische Interessen vertreten.

5.1.1     Philosophische Literatur

Im Historischen Wörterbuch der Philosophie (1984) läßt sich zwar ebenso, wie in der Europäischen Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaft (1990) ein Artikel über den Monismus finden, das darüber hinaus gehende Wirken Ostwalds erfährt jedoch keine Würdigung. . Die Pyramide der Wissenschaften wird nicht erwähnt In beiden Artikeln ist auch kein Hinweis zu finden, daß die Gedanken zur Vereinheitlichung der Wissenschaft auf irgend eine Weise fortgesetzt worden wären. Da es sich hier um eine Arbeit in Geschichte handelt, hätte es zu weit geführt, die philosophische Literatur detaillierter zu sichten. Dies wurde von Jan-Peter Domschke zumindest für den marxistisch-leninistischen Teil geleistet.[1]

5.1.2     Soziologische Literatur

In der Literatur der Soziologie finden sich ebenfalls nicht viele Hinweise auf Wilhelm Ostwalds gesellschaftswissenschaftliche Ideen. Das Internationale Soziologenlexikon (1969) widmet Ostwald eine Seite. „Aus diesem obersten energetischen Prinzip“ ist hier zu lesen, gibt es nach Ostwald „eine natürliche Pyramide der Wissenschaften mit den drei großen Abteilungen: Wissenschaft der Ordnung, der Arbeit und des Lebens. Damit unterliegen auch die ‘Lebenswissenschaften’ Physiologie, Psychologie und Soziologie dem Energiebegriff.“[2] Hier stellt der Autor den von Ostwald gemeinte Sachverhalt gradewegs auf den Kopf. Die genannten Wissenschaften ‘unterliegennicht dem Energiebegriff, sondern der Energiebegriff liegt, wie weiter oben versucht wurde darzustellen, diesen Wissenschaften zugrunde. In diesem Lexikonartikel nicht erwähnt, daß irgend ein späterer Autor sich der Meinung Ostwalds anschloß.

Die umfangreiche Literaturstudie über den Soziologischen Diskurs im Kaiserreich von Gisela Wallgärtner enthält ebenfalls keinen Hinweis auf Ostwald. Das Verhältnis zwischen Sozialwissenschaft, Geschichte und Naturwissenschaft wird lediglich anhand der Ideen Wilhelm Wundts diskutiert, nach denen „Gesetze auf soziales Geschehen nicht anwendbar“[3] seien, vor allem wegen rechtlicher Regelungen und wegen der Willensfreiheit, die eine allgemeine Kausalität des sozialen Lebens ausschliesse.

Max Weber hat zu den Energetischen Grundlagen der Kulturwissenschaft eine 27-seitige Rezension verfaßt, die nicht viel mehr als Hohn und Spott beinhaltet. Er entlarvt rücksichtslos die Schwächen und Fehler des Ostwaldschen Dilettantismus. Und er verurteilt mit Recht die Überheblichkeit, mit der Ostwald gegen die Geisteswissenschaften herzieht. Trotzdem anerkennt er die Notwendigkeit, daß die Auswirkungen energetischer Vorgänge auch in der Soziologie bedacht werden müssen.[4] Ein Eingeständnis, das allerdings in seiner berühmten Definition von Soziologie keine Wirkung zeigte. Weber grenzt die Soziologie völlig von den positiven Wissenschaften ab, indem er nicht nur die Ostwaldsche Pyramide ablehnt, sondern auch den ‘Comtismus’. Er sieht beispielsweise keinen Zusammenhang zwischen der Soziologie und der Psychologie, vielmehr ist er der (normativen) Meinung, „daß die reine ‘Theorie’ unserer Disziplin auch nicht das mindeste mit ‘Psychologie’ zu tun hat“ [5]. Dies ist wiederum auch eine ungerechtfertigte Überheblichkeit, die beide Seiten nicht viel weiter bringt. Man fragt sich, wie ein „fruchtbares Zusammenarbeiten“[6] zwischen kulturwissenschaftlichen und naturwissenschaftlichen Disziplinen zustandekommen soll, wenn die „Voraussetzung“ dafür sein soll, daß sich die Vertreter beider Disziplinen nicht gegenseitig Vorschläge (Weber vermutet hier Vorschriften) für „Methoden und Gesichtspunkte“[7] machen dürfen. Wenn Weber die Formulierung ‘Grundlagen der Kulturwissenschaft’ nicht als Vorschrift, sondern als Anregung aufgefaßt hätte, wäre er der Sache möglicherweise näher gekommen. Diese vernichtende Kritik des wichtigsten frühen Vertreters der Soziologie steht paradigmatisch für die Wirkung, die positivistisches Denken in der Soziologie - bis heute - hat.

5.1.3     Geschichtswissenschaftliche Literatur

Die Geschichtswissenschaft, die von Ostwald so stark ins Visier genommen wurde, hat den kulturgeschichtlichen Ansatz von Karl Lamprecht verworfen, der einzige in Deutschland, der in diesen Jahren durch seine Hinwendung zum Positivismus in die Nähe von der Ostwaldschen Idee der energetischen Grundlagen der Kulturwissenschaft kam. In Frankreich und in den Vereinigten Staaten wurde die Sozialgeschichte schon relativ lange ernstgenommen. In den zwanziger Jahren gründeten Lucien Febvre und Marc Bloch eine Zeitschrift mit dem Namen Annales d’histoire économique et sociale mit der sie einer ‘neuen Art von Geschichte’ zur Verbreitung verhelfen wollten. Sie griffen unter anderem die Kulturgeschichte von Karl Lamprecht auf. Gleichzeitig wandten sie sich verstärkt der Soziologie Durkheims zu. Die Annales-Schule, wie diese Richtung der Geschichtsforschung genannt wurde, fand nach dem Zweiten Weltkrieg mit Fernand Braudel an der Spitze eine intensive Fortsetzung. Die Zusammenarbeit von Soziologen, Anthropologen und Historikern an der Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales, deren Präsident erst Febvre dann Braudel war, „geschah zu einer Zeit, da solche Gespräche anderswo schwierig waren“[8].

Die seit den sechziger Jahren unseres Jahrhunderts sich verstärkende Tendenz zur Sozialgeschichte, war also in gewissem Sinne eine Wiederaufnahme der Kulturgeschichte Lamprechts. Die Verknüpfung soziologischer Theorien mit der Geschichte war noch in den siebziger Jahren bei der großen Bedeutung der Hermeneutik nicht so selbstverständlich, wie man dies vielleicht annehmen könnte. Historiker wie Hans-Ulrich Wehler und Thomas Nipperdey forcierten diese Verbindung von Geschichte und Soziologie.[9] Eine eigenständige Theorie der Geschichte ist dabei nicht diskuttiert worden. Die Wirtschafts- und Sozialgeschichte hält seither mehr und mehr Einzug in die Geschichtswissenschaft, indem soziologische Methoden bei der Auswertung historischer Quellen angewendet werden. Wie im vorigen Kapitel 5.1.2 ausgeführt wurde, hat dort, in der Soziologie, die Einheit der Wissenschaften, so wie sie Ostwald angedeutet hat, keinen Anklang gefunden, deshalb ist auch nicht zu erwarten, daß Ostwald auf diesem Weg in die Geschichtswissenschaft eingegangen ist. Die traditionell hermeneutisch arbeitenden Historiker haben ohnehin keinen Grund, eine Einheit ihrer geisteswissenschaftlichen Disziplin mit den Naturwissenschaften anzunehmen.

5.2 Mögliche Anknüpfungspunkte in modernen Theorien

5.2.1     Wissenschaftstheoretische Anknüpfungen

Seit der Zeit Wilhelm Ostwalds sind die Betrebungen, den Dualismus von Geistes- und Naturwissenschaft aufzuheben nicht abgebrochen. In den dreissiger Jahren war es der Wiener Kreis, in den fünfzigern kamen die Stimmen aus den USA, in den sechziger Jahren ging die Diskussion von den Thesen von C.P. Snow in England aus und auch in den Neunzigern wird mit diesem Problem immer noch gerungen, wie die Veröffentlichungen des Zentrums Philosophische Grundlagen der Wissenschaften in Bremen zeigen.

Der Wiener Kreis mit Rudolf Carnap, Otto Neurath, Friedrich Waismann und anderen postuliert in den dreißiger Jahren die Einheitswissenschaft. Unter der Voraussetzung, daß es keinen metaphysischen Gott gibt, wird auch die Zweiteilung der Wissenschaft überflüssig. „Die Geisteswissenschaften sind weder durch Methode, noch durch Gegenstand, noch durch sonst etwas sinnvoll abtrennbar.“[10] Die Vereinheitlichung soll über die Vereinheitlichung der Sprache vor sich gehen. Schon die Kindern sollen sich daran gewöhnen, ausschließlich ‘physikalistische’ Protokollsätze zu verwenden, damit kommen sie niemals in die Verlegenheit, etwas mit „einer veralteten Metaphysik mit ihren sinnleeren Formulierungen“[11] erklären zu müssen. Die Trennung der Wissenschaften ist hier ein rein sprachliches Problem. Vorgeschlagen wird eine Reduktion auf einen ‘physikalistischen Einheitsslang’. „Es gilt eine Sprache der Protokollsätze zu formulieren, von denen wir zu den Vereinheitlichungen gelangen, die den Inbegriff der physikalistischen Sätze liefern [, dann] werden Behavioristen, Gestaltpsychologen, Reflexologen, Individualpsychologen, Psychoanalytiker [und Soziologen (HB)] ihre Lehren in physikalischer Einheitssprache vor sich sehen und endlich erfolgreich miteinander vergleichen können.“[12] Der Wiener Kreis orientiert sich nicht an der Energetik Ostwalds, sein Ansatz ist empirisch weniger fundiert als die Energetik. Der Physikalismus zeigt sich extrem reduktionistisch und lehnt sich an die Physik Machs an, außerdem ist er dem Marxismus nicht fern.

Paul Oppenheim und Hilary Putnam kamen 1958 in ihrem Aufsatz über die Einheit der Wissenschaft als Arbeitshypothese zu einem ähnlichen Stufenmodell wie die Ostwaldsche Pyramide, ohne daß sie auf diese Bezug nehmen würden. „Wir legen deshalb ein so gewähltes System von Reduktionsstufen vor, daß eine Teilwissenschaft mit Dingen einer gegebenen Stufe als Grundbereich stets potentielle Mikroreduzierende einer jeden Teilwissenschaft mit Dingen nächst höherer Stufe (falls eine solche existiert) als Grundbereich ist.“[13] Sie kommen deduktiv zu folgender Hierarchie: „6: Soziale Gruppen, 5: (mehrzellige) lebende Dinge, 4: Zellen, 3: Moleküle,2: Atome, 1: Elementarteilchen“[14]. Daraus ergibt sich eine „natürliche Ordnung der Wissenschaften“[15] nach der die heutige Einteilung in Physik, Biologie und Sozialwissenschaften noch zu grob ausfällt. „Die stetige Ordnung mag eher als ‘darwinistisch’ denn als ‘Linné-artige’ bezeichnet werden“[16], was soviel bedeuten soll, daß die Hierarchie der Dinge im Laufe der Zeit die Anordnung der Wissenschaften bewirken wird. Dieser Ansatz ähnelt stark dem Ostwaldschen, allerdings in einer reduktionistischen Umkehrung. Er ähnelt ihm auch in der Tatsache, daß bis heute keine nennenswerte Weiterentwicklung stattgefunden hat.

Einer der Begründer der modernen Systemtheorie, L. von Bertalanffy geht von einem ähnlichen Stufenmodell aus: „Realität, in der modernen (begrifflichen) Fassung (conception), erscheint als eine gewaltige hierarchische Ordnung organisierter Entitäten, die in einer Überlagerung vieler Stufen (levels) von physikalischen und chemischen Systemen zu biologischen und soziologischen Systemen führten. Einheit der Wissenschaft wird nicht durch eine utopische Reduktion aller Wissenschaften auf Physik und Chemie verbürgt, sondern durch strukturelle Gleichförmigkeiten (structural uniformities) der verschiedenen Stufen der Realität“[17]

Die in den sechziger, siebziger und achtziger Jahren zum Teil sehr leidenschaftlich geführte Auseinandersetzung um den Vortrag C.P. Snows mit dem Titel The Two Cultures and the Scientific Revolution zeigt deutlich, daß es sich bei der Debatte um die Einheit der Wissenschaft keineswegs um eine Randerscheinung der Wissenschaftstheorie handelt. Aber auch diese Debatte verlief sich in der für alle unbefriedigenden Erkenntnis, daß sich Geistes- und Naturwissenschaften gegenüberstehen.[18] Herbert Schnädelbach leugnet den Dualismus, den Snow für das britische Universitätssystem beschrieb, für das deutsche Wissenschaftssystem, dieses sei pluralistisch. So seien Mathematik, Medizin, Geographie, Ökologie oder die Sozialwissenschaften weder in die eine, noch in die andere Sparte einzureihen. Nur ob diese Erkenntnis das von Snow beklagte Problem der Verständigungsschwierigkeiten vereinfacht, bleibt dahingestell. So gut wie alle interdisziplinären Anstrengungen bei der universitären Ausbildung, diesen Dualismus bzw. Pluralismus zu durchbrechen, sind bisher von nur wenig Erfolg gekrönt. Interdisziplinäre Seminare oder fachfremde Pflichtscheine dienen allenfalls dazu, ein besseres Verständnis der ‘Gegenseite’ zu erreichen, aber eine Aufhebung des Dualismus zwischen Geist und Natur steht bis heute nicht ernsthaft zur Debatte. Ernst zu nehmende Vorstöße von Vertretern der einen Seite in die Welt der anderen werden kaum wahrgenommen und bleiben ohne Resonanz.[19]

Als Mitte der achtziger Jahre, auf dem Höhepunkt der Wettrüstung, Naturwissenschaftler sich Gedanken über ihre Verantwortung in der Gesellschaft machten, kamen sie überhaupt nicht auf die Idee, daß sie mit ihrem Wissen etwas zu gesellschaftstheoretischen Problemen beitragen können, außer daß sie vor der Gefährlichkeit naturwissenschaftlich-technischer Systeme warnen sollten. „Es genügt nicht, von einem Elfenbeinturm zu einem anderen hinüberzurufen. [...] Aus diesem Grunde halte ich es für entscheidend,“ schreibt der Genetiker und Strahlenbiologe Peter Starlinger unter dem Titel Wir müssen aus dem Elfenbeinturm heraus im Ergebnisband des Kongresses Verantwortung für den Frieden - Naturwissenschaftler warnen vor neuer Atomrüstung (1984) „daß der Wissenschaftler, der sich mit politischen Fragen beschäftigt, wirklich in den großen politischen Strömungen mitarbeitet.“[20] Man erkennt zwar die Notwendigkeit zur Zusammenarbeit mit anderen Fachleuten, kommt aber nicht auf den Gedanken, daß das naturwissenschaftliche Wissen zur gesellschaftstheoretischen Klärung der Bedrohungssituation beitragen könnte. Man begnügt sich mit der Formulierung gemeinsamer politischer Ziele. Ein System der gegenseitigen Durchdringung unter beidseitiger Respektierung der jeweiligen Besonderheiten, wie es Wilhelm Ostwald in seiner Pyramide der Wissenschaften vorgeschlagen hat, ist heute mehr denn je notwendig für die Bewältigung der ökologischen und sozialen Probleme.

Gerhard Pasternack plädiert ähnlich wie Ostwald für den methodologischen Monismus bei gleichzeitigem Pluralismus von Disziplinen und Methoden. „Alle Disziplinen müssen für ihre Theoriekonstruktionen, Hypothesenbildungen, Überprüfungsverfahren Differenzierungen der vorgängigen komlexen Einheit von Ontischem und Epistemischem vornehmen [...] Wissenschaften gehören insofern alle ein und dem selben Handlungssystem an.“[21] Eigentlich ist dies, Jahrzehnte nach Wilhelm Ostwald, genau seine Aussage. Ostwald hat darüber hinaus jedoch auch noch einen Vorschlag geliefert, auf welche Weise die Disziplinen untereinander in Verbindung treten könnten.

Friedrich Hinterberger vergleicht biologische, kulturelle und ökonomische Prozesse und entdeckt zwischen ihnen ‘evolutorische Analogien’ und strebt deshalb die Darstellung von Interaktionen zwischen den Bereichen an. „Dies erlaubt uns insbesondere das Konzept der Koevolution, also der aufeinander bezogenen Entstehung und Entwicklung von Merkmalen.“[22] Auf dieser Basis wird ein Simulationsmodell für eine Population von Organismen, die eine bestimmte Verteilung von biologischen und kulturellen Merkmalen aufweist, entworfen und mathematisch formuliert. Dies ist ein Ansatz über disziplinäre Grenzen hinweg, der allerdings seine Brauchbarkeit erst noch beweisen muß.

Die aktuellste Forschung stellt heute fest, daß es zwischen allen Bereichen der Wissenschaften durchgängige Problemstellungen gibt, die nur durch eine enge Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Disziplinen zu beantworten sein könnten. So fand anläßlich des 50-jährigen Bestehens der Max-Planck-Gesellschaft im Dezember 1998 eine Festveranstaltung statt, auf der Vertreter aller Sektionen zum Thema der Emergenz in ihren Wissenschaftsbereichen berichteten. Der Physiker Klaus von Klitzing zeigte, wie in der Nanoelektronik in subatomaren Größenordnungen durch quantenphysikalische Effekte neue Phänomene in elektronischen Bauteilen entstehen können. Steven Beckwith vom MPI für Astronomie redete über die Entstehung von Komplexität im Universum und zeigte, was nach den Berechnungen der Astrophysiker passiert sein könnte seit der Urknall stattfand (wie es aber zu diesem Ereignis kommen konnte, darüber herrscht Ratlosigkeit). Vom Gehirn zur Psyche war der Titel des Vortrags des Hirnforschers Wolf Singer, in dem zum Ausdruck kam, daß nichts anderes als atomare Prozesse in großer Komplexität für die Wahrnehmung verantwortlich gemacht werden. Beim Selbstbewußtsein nimmt Singer an, „daß es sich dabei um ein kulturelles Konstrukt handelt, das hervorgegangen ist aus dem frühen Dialog mit anderen Gehirnen und das sich deshalb nicht am Einzelhirn erfassen läßt“[23]. Auch in den Sozialwissenschaften tauchen, so die Soziologin Renate Mayntz, auf der Makro- oder Systemebene immer wieder neue Qualitäten auf, die nicht aus den Eigenschaften der Mikroebene abzuleiten seien. Aus diesem Grund bestehe bei den Sozialwissenschaften Interesse an den naturwissenschaftlichen Emergenztheorien. Den Grundtenor der ganzen Veranstaltung sprach der Entwicklungsbiologe Alfred Gierer bei seinem Vortrag über die Entstehung des Ich-Bewußtseins aus: „Die Grundgesetze der Physik gelten uneingeschränkt nicht nur in der unbelebten, sondern auch in der belebten Natur.“[24] Dies aber ist ein Teil der monistischen Position, so wie sie von Wilhelm Ostwald vor neunzig Jahren vertreten worden ist.

5.2.2     Gesellschaftswissenschaftliche Anknüpfungen

Es gibt nur wenige soziologische Autoren, die sich heute darauf beziehen, daß der Mensch als kleinste Einheit sozialer Erscheinungen ein biologisches Wesen darstellt, so wie sich das Ostwald gedacht hat. Während die Philosophen Helmuth Plessner und Arnold Gehlen (ohne Bezug auf Ostwald) die biologische Grundlegung des sozialen Menschen entwickelt haben, hatte dies nur wenig Auswirkung auf den soziologischen Erkenntnisprozess. Zu stark sind die Einfüsse der Gründerväter Emile Durkheim und Max Weber, die, aus Gründen der Abgrenzung gegen ander Wissenschaften, vor allem gegen die Psychologie, den soziologischen Gegenstand deutlich abgegrenzt sehen wollten. Beide beschränkten das Forschungsinteresse ausdrücklich auf das soziale Handeln, und vernachlässigten so das bloße Verhalten der Menschen.

Ganz in Weberscher Tradition grenzt auch Niklas Luhmann seine Sozialen Systeme von Psychischen Systemen ab: „Wir gehen davon aus, daß die sozialen Systeme nicht aus psychischen Systemen, geschweige denn aus leibhaftigen Menschen (sic!) bestehen. Demnach gehören die psychischen Systeme zur Umwelt sozialer Systeme.“[25] Die Systemtheorie, die Luhmann von Naturwissenschaftlern wie Bertalanffy, Varela und Maturana übernommen hat, wird hier in ihrer intendierten Funktion der Vereinheitlichung der Wissenschaften pervertiert. Es ist kaum überraschend, daß am Ende dieses Gedankenganges bei Luhmann der radikale Konstruktivismus steht, die Vorstellung, daß die Wirklichkeit nicht Ausgangspunkt der Wissenschaft sei, sondern deren Ergebnis. Es existiere in Wirklichkeit nur das, was sich Menschen ausgedacht haben. Hätte Luhmann hier versucht, einen Kompromiß einzugehen, so wie ihn Ostwald vorgeschlagen hat, dann wären seine Bücher nur halb so dick geworden und um vieles verständlicher. Er hätte den Teil der Erklärung, den Psychologen leisten können, außen vor lassen, und sich auf die eigentlichen sozialen Strukturen konzentrieren können. Selbstverständlich sind soziale und psychische Systeme nicht getrennt voneinander erklärbar. Beispielsweise ist ein individueller Mensch ohne irgendeine Sprache kaum denkbar, zumindest nicht als Teil der menschlichen Gesellschaft. Aber Sprache ist nichts anderes als ein soziales System, das durch die körperlichen Fähigkeiten der menschlichen Organismen erst zustande kommt.

Die psychischen Eigenschaften der menschlichen Individuen beruhen wiederum, auch wenn es manchen Geisteswissenschaftlern nicht gefällt auf den körperlichen Fähigkeiten des Gehirnes. Immer genauere Details kommen diesbezüglich aus der neurophysiologischen Forschung hervor. Aber diese neurophysiologischen Fähigkeiten können auch nicht entstehen, wenn das Individuum keine Gelegenheit zum Austausch, zur sozialen Kommunikation hat. So sind psychische und soziale Systeme aufs Engste miteinander verflochten, und es macht wenig Sinn, bei der wissenschaftlichen Untersuchung dieser Systeme eine so radikale Trennung zu etablieren, wie die Luhman vorgeschlagen hat. Physiologen haben ihren Teilbereich, Psychologen ihren, und die Soziologen ebenfalls. Die Physiologen liefern den organischen Aufbau der Neuronengeflechte, die Psychologen, das, was aus den kompexen chemo-elektrischen Vorgängen in Form von Bewußtsein entsteht, und die Soziologen die überindividuellen Beobachtungen von sozialen Systemen. Gäbe es keine sozialen Normen, hätten die Psychologen keinen Forschungsgegenstand des abnormen Verhaltens. Gäbe es kein Bewußtsein, dann hätten die Physiologen keinen Grund, nach den organischen Grundlagen der Wahrnehmung zu suchen.

Soziale Systeme sind überindividuelle Ergebnisse individueller Handlungen. Wenn man Gesellschaft so betrachtet, dann ist auch die alte Trennung zwischen politischer und Sozialgeschichte obsolet. Das Ziel könnte sein, zum einen die Handlungsspielräume der Individuen innerhalb der gegebenen, zeitlich und räumlich verschiedenen gesellschaftlichen, aber auch der natürlichen Systeme, zum anderen die Veränderungen der Sozialsysteme durch die individuellen Handlungen zu erkunden. Auf diese Weise wäre es kein Widerspruch mehr, soziale Tatsachen, als Handlungssysteme, als Entscheidungsstrukturen, als symbolische Interaktionssysteme oder als Gruppen von Lebensstilen zu betrachten, sondern eine Ergänzung. In jedem Falle müßte aber die Abhängigkeit von psychischen oder auch materiellen Voraussetzungen berücksichtigt werden, Unabhängigkeit von diesen Voraussetzungen erklärt und nicht einfach postuliert werden.

Im Gegensatz zur traditionellen sozialwissenschaftlichen und historiographischen Auffassung stellt August Nitschke das Verhalten der Menschen in seiner Historischen Verhaltensforschung in den Mittelpunkt. Anhand von historischen Darstellungen werden körperliche Verhaltesweisen nachvollzogen, Bewegungen, die in ihrer Form und Richtung Rückschlüsse auf die jeweilige Gesellschaftsform erlauben sollen. Auch er überschreitet die disziplinären Grenzen von der Geschichtswissenschaft zur Soziologie, aber auch zur Ethologie, Biologie und zur Physik. „Wir fragen somit nicht nach der Eigenart von Personen und Personengruppen, sondern nach der Eigenart von Wirkungen. Wirkungen treten nun zwischen Menschen auf, zwischen der Natur und den Menschen und - zwischen der von den Menschen geschaffenen Natur und den Menschen.“[26] Auch hier wird eine gegenseitige Abhängigkeit von biologischen, ökologischen und kulturellen Faktoren zum Ausgangspunkt der Überlegungen gemacht.


Literaturhinweise

[1]       Domschke (1989) ist leider für mich nicht zugänglich gewesen.

[2]       Buckmiller (1980), 320

[3]       Wallgärtner (1990), 170

[4]       vgl. Weber (1909), 423f.

[5]       Weber (1909), 413f. Weber ist sich hier offenbar nicht sicher, ob alle Soziologen seine Meinung teilen, wenn er an diesen Satz anhängt, daß dies „jeder an modernen Methoden geschulte Theoretiker [...] wissen sollte“ a.a.O.

[6]       a.a.O., 425

[7]       vgl. a.a.O.

[8]       Burke (1989), 30

[9]       vgl. Wehler (1972), Nipperdey (1976), Kocka, Nipperdey (1979)

[10]      Neurath (1933), 14

[11]      a.a.O., 17

[12]      a.a.O., 26

[13]      Oppenheim, Putnam (1970), 344

[14]      a.a.O. 245

[15]      a.a.O. 361

[16]      a.a.O. 362

[17]      Bertalanffy  (1950), 164. zit. n. Oppenheim, Putnam (1970), 363, Anm. 10

[18]      vgl. Kreuzer (1987)

[19]      stellvertretend hierzu: Nitschke (1987)

[20]      Starlinger, Peter (1984), 42

[21]      Pasternack (1990), 33

[22]      Hinterberger (1994), 336

[23]      Globig (1999), 26

[24]      a.a.O.

[25]      Luhmann (1993), 346

[26]      Nitschke (1991), 8