1 Einführung
Wilhelm Ostwalds Grundidee einer Pyramide der Wissenschaften ist meines Erachtens bis heute durchaus nachdenkenswert. Sie ist offensichtlich der Rest dessen, was nach dem Scheitern des Monismus von seinen wissenschaftstheoretischen Gedanken bis in die späten zwanziger Jahre übriggeblieben war. Aber auch hier ließen die allzu groben linear-kausalen Erklärungen nur wenig Raum für Anschluß aus den verschiedenen Fachwissenschaften. Auch verhinderten Eitelkeiten eine Ausarbeitung der hierarchischen Strukturierung der Wissenschaftsdisziplinen untereinander. Die Polarisierung zwischen den Geistes- und den Naturwissenschaften war - und ist z.T. bis heute - so stark, daß weder ein Physiker anerkennen konnte, daß Kultur ‘über’ der physikalischen Welt angeordnet sei, noch daß ein Sozialwissenschaftler eine physikalische Grundlegung seiner sozialen Tatsachen dulden konnte. Aber obwohl eine große Abhängigkeit psychisch-sozialer Vorgänge von physikalischen Gesetzen heute kaum jemand mehr bestreiten würde, hat doch seit Ostwald kaum ein Versuch stattgefunden, diese gegenseitige Abhängigkeit theoretisch zu fundieren. Da solche Versuche so gut wie immer von der naturwissenschaftlichen Seite aus gestartet wurden, wurden sie von Sozialwissenschaftlern meist mehr oder weniger deutlich als Reduktionismen abgeschmettert. Hier spielt sicherlich nach wie vor die Vorstellung des mechanistischen Determinismus, der naturwissenschaftlich längst nicht mehr relevant ist, eine Rolle. Um zu zeigen, daß die Überlegungen Wilhelm Ostwalds nicht ganz abwegig waren, sollen sie in dieser Arbeit ausführlich besprochen werden. Soweit ich überblicken kann, hat bis heute niemand den Versuch gemacht, diese Aspekte der Ostwaldschen Energetik zu beleuchten. Robert John Deltete hat zwar ausführlich die Entwicklung der Energetik dargestellt, er beschränkt sich jedoch als Wissenschaftshistoriker auf die naturwissenschaftliche Phase, die weltanschaulich-philosophische klammert er ausdrücklich aus. In dieser Magisterarbeit kann auf diese frühe Entwicklung Ostwalds nur am Rande eingegangen werden. Eckard Daser zeigt in seiner Dissertation in vollem Umfang die logischen und grundsätzlichen Fehler auf, die Ostwald auf der Suche nach der „Sicherheit der Praxis“[2] beging. Er nimmt ihn mit all seiner Arroganz und seinem Dogmatismus beim Wort und kommt so zu einem vernichtenden Urteil: die Lehre in der Pyramide „ist keine wissenschaftliche Lehre, sondern eine Predigt in wissenschaftlichem Kleid“[3] Allerdings interpretiert er Ostwald m.E. falsch. Ich möchte zeigen, daß wegen dieser Fehlinterpretation, die im übrigen viele andere Autoren teilen, der Kern der Einheit der Wissenschaft, so wie ihn Ostwald gedacht hat, nicht verstanden worden ist. Die folgenden Punkte sollen als Leitthesen durch die Arbeit führen. ¨ Wilhelm Ostwalds Auffassung der Einheit von Wissenschaft ist seiner Zeit voraus gewesen. ¨ Wilhelm Ostwald unterschätzte die Komplexität des Gegenstandes der Gesellschaftswissenschaften. Seine diesbezüglichen Kenntnisse waren minimal, nur auf Alltagswissen begründet und nicht empirisch hinterfragt. ¨ Inhalt und Reichweite der Energetik wurden - nicht ohne Ostwalds Zutun - falsch interpretiert. ¨ Wilhelm Ostwalds Scheitern ist begründet in · der starken Tendenz zu Dogmatismus und Polemik · der unglücklichen Allianz zum Monismus Häckelscher Prägung · dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs ¨ Die Gesellschaftswissenschaften können von Wilhelm Ostwalds Sichtweise auch heute noch profitieren. [1] vgl. Hermann (1968), 117; Hollemann, Wiberg (1976), 1152; Neufeld (1987), 85: Ostwaldsches Verdünnungsgesetz, 92: Katalyse,, 110: Ostwald-Verfahren zur Salpetersäure-Gewinnung. [2] Daser (1980), 37 [3] a.a.O., 205 |