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1 Einführung

Die Energetik Wilhelm Ostwalds ist in Vergessenheit geraten. Sie hat nach 1945 keinen Anschluß in irgendeinem wissenschaftlichen Feld gefunden. Dafür lassen sich, wie zu zeigen sein wird, mehrere Gründe finden. Auf dem Gebiet der Physik ist die Energetik mit der Entwicklung der modernen Quantenphysik durch Max Planck und Albert Einstein als grundlegendes Erklärungsmodell in den Hintergrund getreten, obwohl Ostwalds Idee der Ersetzung des Begriffs der Materie durch den Energiebegriff als Vorahnung der allgemeinen Relativitätstheorie betrachtet werden könnte. Der thermodynamische (energetische) Ansatz hatte zwar, hauptsächlich in der Chemie immense Vorteile gegenüber der mechanistischen Betrachtungsweise, trotzdem war seine Reichweite sehr begrenzt. Die Entdeckung der Kernspaltung verlangte nach grundlegend anderen Erklärungsmodellen.

Annähernd zwei Jahrhunderte lang hatte man versucht, die Welt auf die Formeln der Newtonschen Mechanik, also der Bewegungen und Kräfte zwischen Atomen, zurückzuführen und man war getrieben von der Idee einer Weltformel, die alle Bedingungen der physischen Welt beinhalten würde, und somit alle Geschehnisse deterministisch vorhersagen könnte. Sämtliche Erscheinungen des Geistes hatte man hier, in Übereinstimmung mit dem Cartesianischen Dualismus, ausgeklammert. Demgegenüber verleitete der Vorteil der thermodynamischen Erklärung gegenüber der mechanistischen des 19. Jahrhunderts, der ihm den Chemie-Nobelpreis eingebracht hat, Wilhelm Ostwald dazu, entsprechend der mechanistischen eine energetische Weltanschauung zu begründen.

Die Rückführung des Denkens auf physiologische Vorgänge durch die Neurophysiologie Wilhelm Wundts legte den Schluß nahe, daß alle Erscheinungen, die physischen wie die geistigen, auf eine zentrale Erklärung zurückgeführt werden könnten. Ostwald  erschien für diesen Zweck der Energiebegriff mächtig genug zu sein. Er sah seine Anwendungen in der Entwicklungsbiologie, der Physiologie, der Psychologie und in der Soziologie. Es waren nur Ahnungen, und er konnte mangels konkreten Fachwissens in diesen Wissenschaften keinerlei Beweise antreten. Von einer mathematischen Formalisierung war die Anwendung der Energetik weit entfernt. Ostwalds Modelle auf diesen Gebieten waren viel zu grob und dilettantisch angelegt, als daß eine konkrete Überprüfung möglich gewesen wäre. Zudem litt Ostwalds Glaubwürdigkeit darunter, daß er von seinem eigenen Fachgebiet keine Unterstützung mehr erhielt. Er hatte zwar in der physikalischen Chemie mit Hilfe der Thermodynamik so grundlegende Entdeckungen gemacht, daß er dafür 1909 mit dem Nobelpreis für Chemie ausgezeichnet worden war und seine Verdienste auf diesem Gebiet sind bis heute unumstritten[1]. Aber seine Auffassung über die theoretische Physik konnte sich danach nicht mehr weiterentwickeln. Er war nur schwer davon zu überzeugen gewesen, daß das Atom auch nach der Widerlegung der mechanistischen Weltanschauung noch ein wichtiges Erklärungsmodell in der Physik darstellte. Zudem war er mathematisch nicht versiert genug gewesen, um die Modelle Plancks und Einsteins, die in den ersten Jahren unseres Jahrhunderts entstanden sind, nachvollziehen zu können. Und er wollte es eigentlich auch nicht mehr. Sein unschöner Abgang aus der Leipziger Universität und der Zusammenbruch der monistischen Bewegung mit dem Ersten Weltkrieg, auf die er große Hoffnungen in bezug auf die Durchsetzung seines energetischen Weltbildes gesetzt hatte, ließen ihn sich in den zwanziger und dreißiger Jahren auf das Forschungsgebiet der Farbenlehre zurückziehen, wo er im übrigen nochmals bis heute anerkannte Leistungen vollbringen konnte.

Wilhelm Ostwalds Grundidee einer Pyramide der Wissenschaften ist meines Erachtens bis heute durchaus nachdenkenswert. Sie ist offensichtlich der Rest dessen, was nach dem Scheitern des Monismus von seinen wissenschaftstheoretischen Gedanken bis in die späten zwanziger Jahre übriggeblieben war. Aber auch hier ließen die allzu groben linear-kausalen Erklärungen nur wenig Raum für Anschluß aus den verschiedenen Fachwissenschaften. Auch verhinderten Eitelkeiten eine Ausarbeitung der hierarchischen Strukturierung der Wissenschaftsdisziplinen untereinander. Die Polarisierung zwischen den Geistes- und den Naturwissenschaften war - und ist z.T. bis heute - so stark, daß weder ein Physiker anerkennen konnte, daß Kultur ‘über’ der physikalischen Welt angeordnet sei, noch daß ein Sozialwissenschaftler eine physikalische Grundlegung seiner sozialen Tatsachen dulden konnte. Aber obwohl eine große Abhängigkeit psychisch-sozialer Vorgänge von physikalischen Gesetzen heute kaum jemand mehr bestreiten würde, hat doch seit Ostwald kaum ein Versuch stattgefunden, diese gegenseitige Abhängigkeit theoretisch zu fundieren. Da solche Versuche so gut wie immer von der naturwissenschaftlichen Seite aus gestartet wurden, wurden sie von Sozialwissenschaftlern meist mehr oder weniger deutlich als Reduktionismen abgeschmettert. Hier spielt sicherlich nach wie vor die Vorstellung des mechanistischen Determinismus, der naturwissenschaftlich längst nicht mehr relevant ist, eine Rolle.

Um zu zeigen, daß die Überlegungen Wilhelm Ostwalds nicht ganz abwegig waren, sollen sie in dieser Arbeit ausführlich besprochen werden. Soweit ich überblicken kann, hat bis heute niemand den Versuch gemacht, diese Aspekte der Ostwaldschen Energetik zu beleuchten. Robert John Deltete hat zwar ausführlich die Entwicklung der Energetik dargestellt, er beschränkt sich jedoch als Wissenschaftshistoriker auf die naturwissenschaftliche Phase, die weltanschaulich-philosophische klammert er ausdrücklich aus. In dieser Magisterarbeit kann auf diese frühe Entwicklung Ostwalds nur am Rande eingegangen werden. Eckard Daser zeigt in seiner Dissertation in vollem Umfang die logischen und grundsätzlichen Fehler auf, die Ostwald auf der Suche nach der „Sicherheit der Praxis“[2] beging. Er nimmt ihn mit all seiner Arroganz und seinem Dogmatismus beim Wort und kommt so zu einem vernichtenden Urteil: die Lehre in der Pyramide „ist keine wissenschaftliche Lehre, sondern eine Predigt in wissenschaftlichem Kleid“[3] Allerdings interpretiert er Ostwald m.E. falsch. Ich möchte zeigen, daß wegen dieser Fehlinterpretation, die im übrigen viele andere Autoren teilen, der Kern der Einheit der Wissenschaft, so wie ihn Ostwald gedacht hat, nicht verstanden worden ist.

Die folgenden Punkte sollen als Leitthesen durch die Arbeit führen.

¨    Wilhelm Ostwalds Auffassung der Einheit von Wissenschaft ist seiner Zeit voraus gewesen.

¨    Wilhelm Ostwald unterschätzte die Komplexität des Gegenstandes der Gesellschaftswissenschaften. Seine diesbezüglichen Kenntnisse waren minimal, nur auf Alltagswissen begründet und nicht empirisch hinterfragt.

¨    Inhalt und Reichweite der Energetik wurden - nicht ohne Ostwalds Zutun - falsch interpretiert.

¨    Wilhelm Ostwalds Scheitern ist begründet in

·       der starken Tendenz zu Dogmatismus und Polemik

·       der unglücklichen Allianz zum Monismus Häckelscher Prägung

·       dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs

¨    Die Gesellschaftswissenschaften können von Wilhelm Ostwalds Sichtweise auch heute noch profitieren.


Literaturhinweise


[1]       vgl. Hermann (1968), 117; Hollemann, Wiberg (1976), 1152; Neufeld (1987), 85: Ostwaldsches Verdünnungsgesetz, 92: Katalyse,, 110: Ostwald-Verfahren zur Salpetersäure-Gewinnung.

[2]       Daser (1980), 37

[3]       a.a.O., 205